|
|
|
Die Macht des Einfachen in unserer komplizierten Welt - Charlotte Zanders Riesensammlung naiver Kunst auf Schloss Bönnigheim bei Stuttgart
Die Faszination scheint sich für diese Frau mit jedem weiteren Bild, mit jeder weiteren Skulptur zu erneuern. Es ist, als atme sie diese Kunst ein und aus wie andere Leute die Luft. Die 1930 in Krefeld geborene Charlotte Zander, einst Balletttänzerin, dann Fotomodell und schließlich Galeristin (die Münchner Galerie Charlotte bestand fast ein Vierteljahrhundert), sammelt naive Kunst. Und weil sie offenbar alles gründlich macht, was sie tut, kamen seit den fünfziger Jahren rund 4000 Objekte zusammen, die sicher noch nicht das Ende ihrer Sammlerbegierde, aber jetzt schon die weltweit größte Kollektion dieser Kunstrichtung darstellen. Charlotte Zander musste 1995 ihre Galerie schließen kein Platz mehr! Aber gleichzeitig hatte sie das Glück, ein Schloss erwerben zu können, wo sie ihre Schätze noch immer ausbreiten kann: Schloss Bönnigheim bei Stuttgart. Dort richtete sie ihr eigenes Museum ein und veranstaltet dreimal im Jahr auch eine große Sonderschau. Im Jahr 2002 allerdings müssen interessierte Besucher nicht unbedingt nach Bönnigheim reisen, sondern können es auch bequemer haben: Eine repräsentative Auswahl des Museums Charlotte Zander ist nach Wien auch in den Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen zu sehen (bis 30. Juni 2002), und die 200 Exponate wandern vom 28. Juli bis 13. Oktober 2002 noch in die Kunsthalle Recklinghausen. 200 Bilder und einige Skulpturen es ist fast schon zu viel für einen normalen Besucher. Charlotte Zander unterscheidet übrigens strikt zwischen harmlos epigonalen Sonntagsmalern und “der Naive”, einem Begriff, der aus ihrer Perspektive eher die wirklich originären Künstlerpersönlichkeiten bezeichnet und an der Peripherie zur “Art brut” übergeht. Nun lässt sich das unbestreitbare Talent mancher Sonntagsmaler wohl nicht immer von naiver Kunst abgrenzen, aber “die Naive” auch nicht immer von der Hochkunst einerseits und von der Kunst schizophrener Maler andererseits, zumindest diese Erkenntnis gewinnt man beim Rundgang durch die Wanderausstellung. Vielleicht ist für manchen Besucher gerade dieses Oszillieren an den Rändern die größte Überraschung. Charlotte Zanders Sammlung ist zeitlich begrenzt auf das Kunstschaffen der letzten anderthalb Jahrhunderte. Was hat der naiven Kunst gerade in dieser Epoche der Umbrüche und kulturellen Verwerfungen ein solches Interesse und diese schöpferische Blüte ermöglicht? Was die Rezeption vonseiten des Publikums betrifft, so wurde und wird “die Naive” sicher deshalb geschätzt, weil das Einfache an Macht gewinnt in einer Welt, die immer komplizierter wird. Der Durchbruch gelang zum Beginn des 20. Jahrhunderts, nachdem Vertreter der Hochkunst sich für ihre ganz anders gearteten Kollegen interessierten. Die Anerkennung, die beispielsweise dem Zöllner Henri Rousseau in der Pariser Szene zuteil wurde, ist symptomatisch, ebenso das Interesse Kandinskys und des Blauen Reiters an der naiven Kunst. Diese Hinwendung lässt sich nur dadurch erklären, dass Malerei und Skulptur der Hochkunst in ihrem Stil- und Themenrepertoire ausformuliert waren und die Künstler nach einer ursprünglichen Wahrheit anstelle der zivilisatorischen Ästhetik suchten, nach unverfälschtem Ausdruck. Dem gleichen Bedürfnis nach Authentizität entsprang der Einfluss “primitiver” Kulturen beispielsweise auf Gauguin, der aus einer gesicherten Existenz in Paris nach Tahiti flüchtete, auf Picasso, der von Skulpturen Schwarzafrikas fasziniert war, oder auf die Expressionisten. Selbst die Kunst der Kinder und Geisteskranken wurde plötzlich als authentische Leistung wahrgenommen und bewirkte einen wahren Aufbruch in den Köpfen. Der Einfluss naiver Künstler auf die Hochkunst ist jedoch nicht Charlotte Zanders Thema, sie verfolgt keine kunsthistorische Entwicklungslinie, sondern die Äußerungen der “Naive” selbst, und da ist die Breite der individuellen Ausdrucksformen ebenso erstaunlich wie die Fülle an bedeutenden Namen in ihrer Sammlung. Natürlich besitzt sie einige (insgesamt 12) hochkarätige Bilder von Henri Rousseau (1844-1910), Bilder, auf denen saftige Urwaldvegetation fast beängstigend wuchert und die menschliche Figur in visionärer Unwirklichkeit auftaucht. Bleibt man bei den französischen Naiven (die Sammlung Zander ist ohne zwanghafte Systematik in nationale Schulen eingeteilt), so tauchen Louis Vivin (1861-1936) mit drastischen Jagdszenen und peniblen Architekturen (30 Werke), die Putzfrau Séraphine (1864-1942) mit 12 großformatigen, fast manischen Blumenbildern oder Camille Bombois 1883-1970) mit knackigen Zirkus- und Bordellszenen auf. Über welche Bandbreite allein Bombois verfügte, der unter anderem Landarbeiter und Ringkämpfer war, bevor er von seinen Bildern leben konnte, erweist sich anhand des Riesenkomplexes von rund 20 Gemälden in der Wanderschau (in der Sammlung sind es 103!): Außer den drallen Nackten und bunten Clowns verblüffen zum Beispiel zwei Teichlandschaften mit penibler Reihung blühender Wasserpflanzen, die mit menschlichen Figuren wirkungsvoll kontrastieren. Auch der mit 18 Gemälden in der Wanderschau vertretene André Bauchant (1873-1958) beeindruckt mit großer thematischer und malerischer Spannweite. Im Museum auf Schloss Bönnigheim liegt er mit einem Bestand von 143 Werken an der Spitze. Seine Landschaftsbilder sind von irritierender Suggestion, während die Figurenbilder, die oft biblische oder historische Szenen beschwören, schon mal hilflos komisch anmuten, so wie man sich “Naive” eben vorstellt und wie sie selten sind. Dafür entschädigen dann großartige Blumengemälde. Dass die kroatische “Schule” mit Ivan und Josip Generalic, Ivan Rabuzin und anderen vertreten ist, scheint angesichts der Beliebtheit ihrer Bilder seit den sechziger Jahren geradezu unvermeidlich. Aber auch Russen, Polen, Griechen, Georgier, Israelis und Deutsche sind vertreten, wobei beispielsweise Adalbert Trillhaase (1859-1936), von dem Charlotte Zander 18 Zeichnungen besitzt, als “Naiver” kaum im Bewusstsein der Kunstrezipienten hängen geblieben ist; er gehörte zum Kreis des “Jungen Rheinlands” in Düsseldorf. Ähnlich geht es einem mit dem Popmaler Josef Wittlich (1903-1982), dessen vibrierende Konturen und anspruchsvolle Verarbeitung von Bildvorlagen aus der Werbung kaum noch als “naiv” definiert werden können (über 30 Jahre hinweg wurden von ihm nicht weniger als 67 Arbeiten erworben). Welten scheinen auch zwischen einem urtümlich Naiven wie dem slowakischen Briefträger Ondrej Steberl (1897-1977) und dem Amerikaner Morris Hirshfield (1872-1946) zu liegen, dessen aus der polnischen Volkskunst inspirierte Bilder mit ihrer ornamentalen Präzision begehrte Objekte nicht nur der New Yorker Kunstszene waren. (Dass die ehrgeizige Sammlerin von ihm “nur” vier Werke besitzt, spricht für die Schwierigkeit des Beschaffens.) Was man bei Charlotte Zander lernen kann, sind eben der ganze Reichtum und die Vieldeutigkeit naiver Kunst. Von Unvermögen sind diese Künstler meistens weit entfernt, auch wenn dem Auge das eine oder andere Werk schon mal etwas krude erscheint.
Info: Museum Charlotte Zander, D-74357 Bönnigheim, Hauptstraße 15, Tel. 07143-4226, Fax 07143-4220.
Literaturempfehlung: R. Zuck, Naive Malerei, M./W. 1974; O. Bihalji-Merin, Die Naiven der Welt, Eltville 1986; Jan Balet, Gemälde - Zeichnungen - Graphik - Museum Langenargen am Bodensee, 1983.
|
|
|
|
|
|
|
|
Sie möchten
Kunst verkaufen?
Für
vorgemerkte
Kunden sind wir
ständig am Ankauf
guter Gemälde
interessiert
sowie an
Kunst und Antiquitäten
aller Art
und Künstlernachlässen
des 20. Jahrhunderts bis
in die 1970er Jahre
sprechen Sie uns an,
wir freuen uns auf
Ihre Angebote.
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|