Mit dem Begriff "Expressiver Realismus" hat der Kunsthistoriker Rainer Zimmermann treffend eine bislang zu wenig beachtete Richtung der Malerei des 20. Jahrhunderts beschrieben. Sie folgte mit ausgeprägt realistischen Tendenzen auf die expressionistischen und ungegenständlichen Ausdrucksformen der Malerei zwischen der Jahrhundertwende und dem Ausbruch des 1. Weltkrieges.
Vergegenwärtigen wir uns die künstlerische Situation der Zeit zwischen 1900 und 1914: Die Aufbruchstimmung um das Jahr 1900 hatte vor allem in der Malerei zu bislang unbekannten künstlerischen Strukturen geführt. Aus dem französischen Impressionismus heraus entwickelte sich der Pointillismus, eine nur aus nebeneinander gesetzten Farbtupfern bestehende Malerei ohne tonige Farbübergänge. Dabei lösten sich die malerischen Mittel, Zeichnung und Farbe, vom dargestellten Gegenstand und gewannen an Eigenwertigkeit. Das erste abstrakte Bild, ein Aquarell, malte Wassily Kandinsky 1910. Fünf Jahre zuvor, also 1905, hatte sich die Künstlergemeinschaft "Brücke" in Dresden gegründet. Im selben Jahr erhielten anlässlich des Pariser Herbstsalons die Fauves (die Wilden) ihren Namen. Beides waren Künstlergruppen, deren Malerei von der Kraft der Farbe und der Freiheit der Form bestimmt war.
In diesem für die Geschichte der Malerei des 20. Jahrhunderts so wichtigen Jahr 1905 wurden Künstler geboren, die später zu den wichtigsten Vertretern des Expressiven Realismus im deutschsprachigen Raum gehören sollten: Ernst Hassebrauk, Joseph Mader, Willi Oltmanns und Alfred Wais. Andere waren kaum älter, wie Curt Querner (geb. 1904), Hans Fronius (geb. 1903), Hans Meyboden (geb. 1901) und Theodor Rosenhauer, ebenfalls 1901 geboren. Weitere Künstler des Expressiven Realismus, wie Franz Frank (geb. 1897) und Otto Pankok (geb. 1893), stammen noch aus dem 19. Jahrhundert . Die Maler des Expressiven Realismus waren also eine Generation jünger als jene bahnbrechenden Künstler, die vor Ausbruch des 1. Weltkrieges die bürgerliche Gesellschaft mit ihrer revolutionären Malerei geschockt hatten, wie zum Beispiel Wassily Kandinsky (geb. 1866), Henri Matisse (geb. 1869), Piet Mondrian (geb. 1872), Kasimir Malewitsch (geb. 1878), Paul Klee (geb. 18 9), Ernst Ludwig Kirchner (geb. 1880), Pablo Picasso (geb. 1881), Georges Braque (geb. 1882) und Erich Heckel (geb. 1883).
Als die Künstler der Jahrgänge 1901 bis 1905 in den zwanziger Jahren ihre Ausbildung erhielten, waren fauvistische, expressionistische und abstrakte Malerei bereits Geschichte. Neben konstruktivistischen Ansätzen, die sich übergreifend in Malerei, Skulptur, Architektur und Kunsthandwerk beispielsweise im Weimar-Dessauer Bauhaus äußerten, waren es vor allem neorealistische Strömungen ("pittura metafisica" und "Neue Sachlichkeit"), die als Ausdrucksformen der Gegenwart Aufmerksamkeit beanspruchten. Allerdings konnten sie nicht alle Kunststudenten und jüngeren Künstler ansprechen. Viele der jungen Maler in der deutschsprachigen Kunstlandschaft orientierten sich vielmehr am Spätwerk des Malers Lovis Corinth (1858 - 1925), der selbst nie zur künstlerischen Avantgarde gezählt hatte. Diese Künstler, die ihrer Vätergeneration, den expressionistischen und abstrakten Malern, distanziert gegenüberstanden, waren von der vor allem in Corinths Spätwerk zum Ausdruck gekommenen malerischen Kraft fasziniert. So suchten viele Maler der jüngeren Generation ihr Ausdrucksfeld in einem Realismus, der die revolutionären Schritte der Kunst zur Zeit ihrer Geburt zwar nicht negieren, aber doch überwinden sollte. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass auch in den deutschsprachigen Ländern Maler dieser Generation, wie Fritz Winter (geb. 1905), Karl Hartung (geb. 1904) und Ernst Wilhelm Nay (geb. 1902) den Weg zur gegenstandslosen Kunst fanden.
Für alle diese Künstler, ob sie nun abstrakt oder gegenständlich gearbeitet haben, gilt, dass sie Opfer einer unglückseligen Geschichte waren. Bei Abschluss ihrer Ausbildung, um das Jahr 1930, waren die wirtschaftlichen Verhältnisse zerrüttet und daher kaufkräftige Kunstsammler selten. Davon abgesehen gab es kaum Ausstellungsmöglichkeiten für jüngere Künstler. Dann beeinträchtigte mehr und mehr die nationalsozialistische Kunstdiktatur das öffentliche Kunstleben und das künstlerische Schaffen. Schließlich unterbrachen Emigration oder Kriegsdienst und Gefangenschaft die Arbeit. In großer Zahl fielen bereits geschaffene Werke den Bomben zum Opfer und machten es den Künstlern unmöglich, gleich nach Kriegsende sich mit einem umfangreichen Oeuvre der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Andererseits bemühten sich nach 1945 die jüngeren Künstler erst einmal intensiv um den Anschluss an die internationale Entwicklung. Die Maler der mittleren Generation in Deutschland und Österreich konnten sich aber kaum aus der ihnen lange Jahre auferlegten Isolation befreien. Für sie bedeutete die "documenta" in Kassel im Jahr 1955 die erste Möglichkeit, die Klassiker der Gegenwartskunst und neuere Tendenzen in der bildenden Kunst der Nachkriegszeit zu sehen. Teure Auslandsreisen waren den zumeist in äußerst bescheidenen Verhältnissen lebenden Malern kaum möglich. Sammlungen der Gegenwartskunst in den deutschen Museen waren noch nicht vorhanden und Sonderausstellungen selten. Sie beschränkten sich auch zumeist auf winzige Ausstellungsräume, so genannte "Zimmergalerien". So fehlten diesen Malern die Grundlagen für eine Auseinandersetzung mit neueren und neuesten Strömungen der Kunst innerhalb eines kulturell zusammenwachsenden (West-) Europa. Die Künstler des Expressiven Realismus kamen somit in den Ruf, überholten Vorstellungen und künstlerischen Überzeugungen anzuhängen, deren Bedeutung für die Gegenwart als zweifelhaft erschien.
Ein etwas älterer Maler unter den expressiven Realisten war der 1897 geborene, seit den dreißiger Jahren in Goßfelden bei Marburg, schließlich in Marburg selbst lebende Franz Frank. Mit einem sowohl thematisch wie technisch breit gefächerten Werk hatte er bereits als junger Künstler auf sich aufmerksam gemacht. Der berühmte Marburger Kunsthistoriker Richard Hamann gehörte zu den Bewunderern seiner Malerei.
Unter den Studenten Hamanns befand sich auch Rainer Zimmermann, der Anfang der 50er-Jahre in den Seminarräumen des Kunstgeschichtlichen Instituts und in den Ausstellungsräumen des Marburger Universitätsmuseums Grafik und Malerei Franks kennen lernte und schließlich den Künstler in Goßfelden besuchte.
Zimmermann war von dem Werk des Künstlers fasziniert: "Ein großes Oeuvre von Gelegenheitsgedichten in Farbe, Zeugnisse eines zitternden Staunens vor den Erscheinungen unserer Welt." Und rückblickend erinnert er sich: "Das Phänomen der Frankschen Malerei hat mich nicht mehr losgelassen. Es war nur zu verstehen als eine neue, so noch nicht da gewesene Form des Realismus, eines expressiven Realismus'."
Mit dieser Begegnung begann eine bis zu Franks Tod im Jahr 1986 reichende Freundschaft, der eine erste 1964 erschienene Biographie zu verdanken ist. Eine zweite, wesentlich erweiterte Ausgabe folgte 1985. Zugleich aber wurde das Interesse Zimmermanns für weitere Künstler des Expressiven Realismus geweckt. Diese zur "nachrevolutionären" Generation gehörenden Maler und Grafiker waren in den Wirren der europäischen Geschichte im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts gewissermaßen untergegangen und mussten für das Kunstleben der Nachkriegszeit als "verschollen" gelten.
Das Werk des Düsseldorfers Otto Pankok (1893 - 1966), das Zimmermann durch eine kleine Ausstellung im Marburger Amerika-Haus vermittelt worden war, fand bald nach der Begegnung mit Frank sein lebhaftes Interesse. Wie im Falle Franks erschien ebenfalls im Jahr 1964 Zimmermanns Biographie des Künstlers, deren zweite Auflage bereits 1972 vorgelegt werden konnte.
Zu den Malern des Expressiven Realismus, die früh die Aufmerksamkeit Rainer Zimmermanns auf sich zogen, gehörte schließlich noch der Ulmer Wilhelm Geyer (1900 - 1968), ein Studienfreund Franks. Auch ihm widmete er eine Biographie, die aber erst drei Jahre nach dem Tod Geyers, 1971, in Berlin erscheinen konnte.
Im Laufe der Zeit lernte Rainer Zimmermann weitere Maler und Grafiker kennen, die in den Jahren um 1900 geboren worden waren, und deren Werke sich in den Bahnen eines expressiven Realismus bewegten. Eine Vielzahl von Publikationen Zimmermanns zu diesen Künstlern führte schließlich zu dem 1980 erschienenen, vielbeachteten Standardwerk "Die Kunst der verschollenen Generation. Deutsche Malerei des Expressiven Realismus von 1925 bis 1975" mit Kurzbiographien von rund 200 Malern und Grafikern. Vierzehn Jahre später konnte es in einer wesentlich erweiterten Fassung jetzt wurden rund 420 Künstler verzeichnet unter dem Titel "Expressiver Realismus. Malerei der verschollenen Generation" (1994) erneut herausgegeben werden.
Gleichzeitig entstand eine Sammlung mit Gemälden, Aquarellen und Gouachen, Zeichnungen und Druckgrafiken in den verschiedensten Techniken, die das künstlerische Schaffen der Expressiven Realisten dokumentiert. Aufgrund des Wunsches von Rainer Zimmermann, diese Sammlung auf Dauer der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wurde im März 1994 die "Stiftung Expressiver Realismus Sammlung Emmy und Rainer Zimmermann" an der Marburger Universität errichtet. In der Präambel heißt es: "Die Philipps-Universität Marburg nimmt die Bereitschaft des Kunsthistorikers Dr. Rainer Zimmermann und seiner Ehefrau Emmy Zimmermann (Wetter-Oberrosphe), ihre Sammlung von Werken deutscher Künstler des 20. Jahrhunderts, ihre Spezialbibliothek und ihr Archiv dem Universitätsmuseum für Kunst und Kulturgeschichte zu überlassen, zum Anlass, dort eine "Galerie des Expressiven Realismus, Sammlung Zimmermann" einzurichten und diese zusammen mit den in ihrem Besitz befindlichen oder noch zu erwerbenden Werken dieser Kunstströmung zu einem überregional bedeutenden Schwerpunkt auszubauen. Sie wird für eine angemessene wissenschaftliche Betreuung Sorge tragen."
Noch vor Unterzeichnung des Stiftungsvertrages hatten die Vorbereitungen zur Unterbringung der Stiftung "Expressiver Realismus" einschließlich der dazugehörigen Eigenbestände des Universitätsmuseums begonnen. Im Tieferdgeschoss des Museums für Bildende Kunst im Ernst-von-Hülsen-Haus der Philipps-Universität wurde ein Raum umgebaut, um Bibliothek und Archiv der Stiftung aufnehmen zu können. Für die Bilder selbst wurden Räumlichkeiten im Erdgeschoss und in der Eingangshalle des Museums zur Verfügung gestellt.
Am 20. März 1994 konnte die "Galerie des Expressiven Realismus" der Öffentlichkeit in Beisein des Stifterpaares, des Präsidenten der Philipps-Universität und des Oberbürgermeisters der Stadt Marburg feierlich übergeben werden. Ein vierter Raum mit Werken des Marburger Malers Franz Frank aus dem Besitz des Universitätsmuseums erweitert seit 1998 die Galerie des Expressiven Realismus, die innerhalb des großen Bestandes an Malerei des 20. Jahrhunderts eine Abteilung von besonderem Gewicht bildet. Beginnend mit dem Jahr der Einrichtung der "Galerie des Expressiven Realismus" konnte dank großzügiger Spenden der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen und der Sparkasse Marburg-Biedenkopf sowie mittels Sondermittel der Marburger Universität die gesamte Sammlung Zimmermann inventarisiert werden. Einschließlich verschiedener Zustiftungen von dritter Seite umfasste der Bestand Ende 1998 über 1.100 Werke.
Quelle: Dr. Jürgen Wittstock, Marburger Universitätsmuseum
Literaturempfehlung: Die Künstler der sog. “Verschollenen Generation”. Ein von Dr. Rainer Zimmermann in dem Titel seiner 1980 erschienenen Publikation geprägter Begriff. Er bezeichnet zwischen 1890 und 1905 geborene Künstler. Eine Künstlergeneration mit einer gemeinsamen, durch die schwierigen Umstände zwischen zwei Weltkriegen beeinflussten Lebensgeschichte. Künstler, die keine kontinuierlichen Arbeits-und Ausstellungsmöglichkeiten hatten, deren Frühwerk oft vernichtet oder auseinandergerissen wurde und deren Schaffen dadurch in Vergessenheit geriet.