Malerinnen im 20. Jahrhundert
Bildkunst der Verschollenen Generation
Das Leben der zwischen 1890 und 1910 Geborenen war durch die gegenläufigen künstlerischen und politischen Strömungen des 20. Jahrhunderts besonders stark geprägt. Künstlerinnen und Künstler dieser Jahrgänge sind nach Meinung der Autorin Ingrid van der Dollen im allgemeinen kunsthistorischen Gedächtnis unterrepräsentiert. Der Begriff der “verschollenen Generation”, der von Rainer Zimmermann 1980 für die Maler des expressiven Realismus benutzt wurde, bildet den roten Faden, der die Künstlerbiografien verbindet. Auf der Suche nach ihren Vertreterinnen durchstöberte die Autorin nicht nur die Depots der Museen und die vorhandene Literatur, sondern besuchte die Künstlerinnen ihres Interesses oder deren Nachkommen und Freunde. Im ersten Teil des Buches werden die historischen Hintergründe der Lebensumstände der betroffenen Frauen dargestellt. Die Generation der um die Jahrhundertwende geborenen erlebte zunächst den Ersten Weltkrieg, dann in den 20er Jahren eine Zeit von Freiheit und Lebensfreude, um kurz darauf die Einschränkungen des Nationalsozialismus und die Schrecken des Zweiten Weltkrieges erfahren zu müssen. Erst nach dieser Zeit, der oftmals das Frühwerk zum Opfer gefallen war, wurde wieder eine individuelle Entwicklung möglich, wobei die Teilung in Ost und West unterschiedliche Voraussetzungen schuf. Gleichzeitig wurden neue Stilrichtungen wie die abstrakte Malerei diskutiert, die mit der Arbeit der hier besprochenen Generation schon längst weniger zu tun hatte. War diese Generation durch die Geschehnisse der Zeit ohnehin eingeschränkt, so kam für die Frauen der Kampf um die Gleichberechtigung noch hinzu. Sie konnten zunächst Zugang zu den Akademien erlangen und so anerkannt professionell arbeiten. Dieses Selbstverständnis erlitt jedoch durch den Nationalsozialismus einen herben Rückschlag. Nach dem Krieg war der Weg der Gleichstellung noch lange nicht vollendet, und bis heute unterliegt das Werk der männlichen Kollegen einer genaueren Beobachtung und Anerkennung. Dies mag die Autorin dazu berufen haben, sich mit den Frauen dieser ohnehin benachteiligten Generation zu beschäftigen. Im zweiten - bezeichnet als kunsthistorischen Teil - wird die Entwicklung der Malerei in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dargestellt und der Versuch unternommen, die Künstlerinnen einzugliedern. Der dritte Teil des Buches schließlich stellt Leben und Werk einzelner Künstlerinnen vor. Ingrid van der Dollen porträtiert und analysiert das Werk von 13 Frauen wie zum Beispiel Hanna Nagel oder Eva Schwimmer, die weitgehend unbekannt geblieben sind, obschon sie ein umfangreiches und diskursives Œuvre geschaffen haben. Den vierte Teil des Buches bildet ein Verzeichnis der Künstlerinnen, die mit den verfügbaren Informationen biografischer und stilistischer Art kurz vorgestellt werden. Kriterien hierfür war das Selbstverständnis der Frauen als Künstlerinnen und eine nachweisbare Ateliertätigkeit. An den Anfang ihrer Ausführungen, die bewusst nüchtern und urteilsfrei bleiben, stellt Ingrid van der Dollen die Grundsatzdiskussionen aus der Zeit der Jahrhundertwende um das Wesen der Frau und insbesondere der Frau als Künstlerin. Weiter beschreibt sie den Weg der weiblichen künstlerischen Ausbildung. Die wütenden oder geringschätzigen Äußerungen der verantwortlichen Männer, die Weiblichkeit selbstverständlich mit Dilettantismus gleichsetzen, erscheinen uns heute absurd. Das Klima änderte sich jedoch schnell und erreichte in den 20er Jahren Normalität. Die Zeit der Weimarer Republik bedeutete eine “goldene Zeit” für die deutschen Malerinnen gleichsam wie für den Rest Westeuropas. Die Frauen konnten anerkannt arbeiten und schufen Werke hoher Qualität. Auch die Ausstellungstätigkeit nahm zu, und positive Kritiken waren die Regel. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten änderte sich das Frauenbild und damit die freie Selbstbestimmung der Künstlerinnen. Die Diskussion um das Wesen des Weiblichen brannte wieder auf und führte diesmal zu einer Rückverbannung der Frau in ihre traditionellen Rollen in Haushalt und Kindererziehung. Die individuelle künstlerische Entwicklung fiel unter diesem Regime ohnehin der Überwachung der Reichskulturkammer zum Opfer. Nicht nur die stilistischen, sondern auch die politischen und rassistischen Gründe drängten Künstlerinnen und Künstler ins Abseits oder zwangen sie zur Emigration. Künstlerische Arbeit wurde größtenteils unterbrochen oder von den Schrecken der Ereignisse bestimmt nicht wenige erlitten bekanntermaßen die vollständige Auslöschung ihres Œuvres und den Tod. Betrachtet werden in diesem Buch die verschiedenen Strömungen der Nachmoderne und der Avantgarde der 20er Jahre und die Arbeiten der Künstlerinnen in diesem Umfeld. Wiederholt macht die Autorin auf den “expressiven Realismus” aufmerksam, der in Ihren Augen diese Zeit ausmacht und dem allgemein zuwenig kunsthistorisches Interesse zukommt. Sie beschreibt unter anderem die Strömungen des Surrealismus und des Konstruktivismus, der neuen Sachlichkeit und der neuen deutschen Romantik. Ferner erforscht sie die Entwicklung der Malerinnen nach dem Weltkrieg, die zunächst von der Verarbeitung der schrecklichen Erlebnisse geprägt war. Die neuen Kunstrichtungen wie Informell oder Pop Art beeinflussten manche der Künstlerinnen, deren Werk hier nachgezeichnet wird, andere blieben davon unberührt. Die Autorin geht auch auf vieldiskutierte Vergleiche zwischen männlicher und weiblicher Kunst ein, beschränkt sich aber auf die Formulierung weiterführender Fragen nach den Gründen der unterschiedlichen Behandlung, da sie in Arbeitweise, Stil oder Qualität keine wesentlichen Unterschiede feststellt. Sie betrachtet auch den Umgang mit den unterschiedlichen Rollen, in denen sich ein Künstler befindet und die für die Künstlerin oftmals die Zerrissenheit zwischen Arbeit und Familie bedeutet. Besondere Aufmerksamkeit schenkt sie an dieser Stelle den Künstlerehen. Van der Dollen sieht sich mit ihren Forschungen vor dem Hintergrund zahlreicher Ausstellungen und Publikation zum Thema Frau und Kunst. Sie nutzt die ausgewählte Generation für verschiedenen Fragestellungen, die nur am Rande die Frage nach dem geschlechterspezifischen Urteil aufwerfen. Vielmehr geht es ihr um die Lebensbedingungen und die Entwicklung der individuellen Stile in der ersten Zeit der Nachmoderne, als ein stilistischer Pluralismus erstmals möglich war. Das Buch erzählt viel über widrige Umstände, die künstlerische Arbeit einschränken oder unmöglich machen. Das Thema der Frauen steht vorne an, da diese besonders für eine künstlerische Entfaltung kämpfen mussten. Frau van der Dollen lässt es aber nicht damit bewendet sein, über die Benachteiligung der Künstlerinnen zu jammern und nutzt diese auch nicht als Grund, die jeweilige Arbeit zu überhöhen. Sie weist sachlich auf die Behinderungen und Zwänge hin und beschreibt Künstlerinnen, die trotz der schwierigen Umstände ein eigenständiges Werk geschaffen haben. Das Buch bietet auf diese Weise eine interessante und informative Ergänzung zu herkömmlichen Publikationen zur Geschichte der deutschen Malerei.
Quelle: Ingrid van der Dollen: Malerinnen im 20. Jahrhundert. Bildkunst der “verschollenen Generation”, Hirmer Verlag München 2000.